Reise zu den Worten 
 
 
 

 
 
 
 
 Neue  Literarische Orte  von  Marlies Obier    
 Ausstellung in der Universitätsbibliothek Siegen, 04. – 30.03.2003

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Auf der Suche nach dem Wort

Vor 100 Jahren, 1903, begegneten sich hoch oben im Norden zwei Polarexpeditionen. Die eine wurde von Roald Amundsen geleitet, der die noch niemals durchfahrene Nordwestpassage suchen wollte; die andere wurde von dem Schriftsteller Mylius Erichsen geleitet, und der junge Knud Rasmussen führte sie auf der Suche nach der noch unentdeckten Welt der uralten Geschichten der Inuit. Als die Nord-Passagen durchfahren, die Pole betreten und das weite Land der Arktis kartografiert waren, blieb nur noch eine verborgene und unbekannte Welt: der unentdeckte Kontinent der Sagen und Mythen. Knud Rasmussen verbrachte seine folgenden dreißig Lebensjahre im Eis, um die Worte der Inuit zu finden und zu bewahren.

„Reise zu den Worten“ ist der Titel eines „Literarischen Ortes“, der der Ausstellung ihren Namen gibt. Auf der Suche nach dem Wort ist auch der Sprachphilosoph Johann Gottfried Herder, der 1803, vor zweihundert Jahren, starb. Der Mensch ist „das Geschöpf der Sprache“ und es ist der „Vorzug der Freiheit“ – so auch der Titel einer Arbeit – der ihn zur Sprache führt. Marlies Obier führt die Suche nach dem Wort in ihrer künstlerischen Arbeit fort.
 
 
 

 

ORT ist ein zentraler Begriff für jeden von uns, sei es im privaten oder beruflichen Leben, sei es in Wissenschaft, Kultur und Politik.

Orte, genauer „Literarische Orte“, schafft und interpretiert Marlies Obier seit mehreren Jahren. „Ich möchte, dass Sprache aus den Buchdeckeln herauskommt“, sagt sie zum Konzept ihres künstlerischen Schaffens, „die Worte sollen in den Raum gehen. Verlässt die Sprache ihren Platz zwischen den Buchdeckeln, braucht sie einen anderen Ort, um erfahrbar zu werden.“ Nach intensiver Lektüre nimmt Marlies Obier sorgfältig ausgewählte Zitate – selten vollständige Sätze, gelegentlich nur die Namen von Autoren und Zeugen vergangener Zeiten und Begebenheiten – aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang heraus und stellt sie in einen neuen Raum. Auf diese Weise will sie Literatur neu und erfahrbar „begehbar“ machen, Betrachter und Leser an einen literarischen Ort heranführen. Zugleich sind ihre literarischen Orte deutliche Aufforderungen an Phantasie und Vorstellungskraft, sich in die neu geschaffene Umgebung hinein zu begeben, die Geschichten, die darin nur angedeutet werden, selbst weiter zu erzählen und zu beleben. Damit wird unterstrichen: Worte sind immer auch Orte, in denen Menschen und ihr Leben zu finden sind.

Mit der diesjährigen Ausstellung bringt Marlies Obier ihre literarischen Orte bereits zum zweiten Mal in die Räume der Universitätsbibliothek Siegen, der sie sich durch ihr Studium und ihre erste berufliche Tätigkeit als Lehrbeauftragte an der hiesigen Universität besonders verbunden fühlt. Während sie vor zwei Jahren mit dem literarischen Ort „Und die Wiesen waren gelb vor Blüten“ die Geschichte einer einfachen jungen Frau wiederbelebte, schickt sie in der aktuellen Ausstellung Besucher und Betrachter unter anderem auf große Abenteuerreise mit Knud Rasmussen. Und auch dieses Mal ist ihre Ausstellung mit der Aufforderung verbunden, die in den Raum gestellten Textausschnitte weiter zu deuten und ihrem Ursprung nachzugehen.

Und welcher ORT könnte hierfür besser geeignet sein als eine Bibliothek?

Doris Schirra, Werner Reinhardt
Universitätsbibliothek Siegen
 
 
 

 

Ortsgespräch

Dirk Bogdanski                    Marlies Obier

Was bedeutet für Sie Sprache?
Meine Sprache bin ich. Sie ist der lebendige Körper, in dem ich mich bewege.

Verstehen Sie sich als Konzeptkünstlerin,Sprachkünst-lerin oder Schriftstellerin?
Dies ist nicht einseitig zu beantworten, da alle drei Kunst-formen in meinen Arbeiten zusam-menkommen. Ich suche geschrie-bene Worte, ich finde eigene Worte und „stelle die Schrift“ in neuen Dialogen in den Raum.

In welchem Verhältnis steht Ihre wissenschaftliche Arbeit über die „Sprache in der Kunst“ zu Ihrer Kunst?
Meine wissenschaftliche Arbeit führte mich zu der Erkenntnis, dass in den letzten hundert Jahren entscheidende Impulse für die Sprache nicht von der Literatur, sondern aus der Kunst kamen.

Ihre Kunst ist hochgradig sprach-reflexiv. Welche Intentionen ver-binden Sie damit? In welchem Verhältnis stehen Ihre Arbeiten zum Rezipienten?
„Literarische Orte“ sind aus Dialogen gemacht, die von mir erfunden sind. Sie sind ein Spannungsfeld, in dem sich ohne die Schranken der Zeit fiktive Begegnungen ereignen. Sie sind Worte im Raum, die den Dialog mit dem Betrachter suchen. Der Literarische Ort ist mit dem Gespräch betreten.

In welcher Tradition sehen Sie Ihre Arbeiten? Gibt es konkrete Vorbilder? Und in welchem Verhältnis stehen Ihre Arbeiten zur Tradition der Collage?
Die Collage im traditionellen Sinn ist mir nicht wichtig. Sie wird als gestalterisches Mittel benutzt, um die Sprache im Schwarz leuchten zu lassen. Meine Arbeiten stehen in der Tradition von Wegen in der Kunst, Sprache neu erlebbar zu machen. Sie gehen aber eigene Wege in Form und Inhalt und haben keine Vorbilder. Nicht Skepsis, sondern Vertrauen auf die Kraft der Sprache ist ihre Voraussetzung. Auf weitem Schwarz leuchtet das Wort hell auf. Ausgeschnittenes wird wieder neu ein Ganzes.

Welches Verhältnis haben Sie zum vorgefundenen Fragmentarischen, zum „objet trouvé“?
Es ist nicht der Zufall, der mich auf Schriftfunde stoßen lässt. Meinem Finden von Textfragmenten geht eine lange Arbeit des Suchens voraus, die sogar jahrelang andauern kann, bis der richtige Ausschnitt gefunden ist, und natürlich ist auch die jahr-zehntelange Arbeit des Lesens notwendig, um überhaupt Wege auf der Suche einzuschlagen. Unter hunderttausenden von Möglich-keiten ist es nur die einzige Zeile, die in ihrer Art mit der anderen Zeile die gewünschte Konstellation herstellen kann.

Wie stellen sich Ihre Arbeiten dem Kontext, der Situation, in der sie wahrgenommen werden (sollen)?
Literarische Orte entstehen oft in Form oder Inhalt mit dem Bezug auf den Ort ihrer Ausstellung. „Kleine Pflanze Clara“ ist der Titel einer Arbeit, die im uralten Wallfahrtsgarten der Eremitage installiert wurde und der direkten Nähe zum Klarissenkloster dort entsprach und Klara von Assisi zur Hauptfigur der Dialoge machte. Der Literarische Ort „Über Grenzen gehen“ ist für einen Theater- und Medien-Schauplatz in der Form des Videos entworfen. „Reise zu den Worten“ und „Sprachfindung“ sind Literarische Orte, die auf die Situation der Bibliothek und des Museums für Literatur eingehen. Das Museum lädt zum Gang durch die Weite der Zeiten ein, dort Literatur zu finden. Die Bibliothek ist ein Buchland, das von niemandem erobert, aber betreten werden kann.

Dirk Bogdanski
Literaturmuseum „Haus Nottbeck", Oelde

 
 
 

 

© UB Siegen / Öffentlichkeitsarbeit (2003-03-04 H. Dettweiler)