Auch wenn im Laufe des 16. Jahrhunderts die Ausbildung adeliger Mädchen immer
umfangreicher und anspruchsvoller wurde, so wurde Lady Jane Grey dennoch von ihren
Zeitgenossen als Ausnahmeerscheinung betrachtet. Ihr Eifer, ihre Wissbegierde und
Auffassungsgabe stellten angeblich selbst die als außergewöhnlich betrachteten Leistungen
König Edwards VI. und Prinzessin Elizabeths in den Schatten.
Janes Vater knüpfte in den späten 1540ern enge Beziehungen zur Genfer Kirche und
ermunterte seine Tochter, in Korrespondenz mit führenden Reformatoren und Gelehrten zu
treten. Im Alter von 13 Jahren schrieb sie erstmals an Zwinglis Nachfolger, den Züricher
Theologieprofessor Heinrich Bullinger. Dieser zeigte sich tief beeindruckt von Janes in
griechischer und lateinischer Sprache verfassten Briefen, die sie mit der Hilfe ihres Tutors
geschrieben hatte. Lady Jane lernte außerdem Französisch und Italienisch, einige
Grundkenntnisse in Hebräisch folgten später.
Roger Ascham, der ehemalige Tutor Prinzessin Elizabeths, hat Lady Janes Liebe zum
Studium in seinem berühmten didaktischen Werk The Scholemaster (1570) verewigt und
zugleich ein trostloses Bild vom Leben der einsamen Prinzessin gezeichnet: Bei einem
Besuch im Sommer 1550 in Bradgate fand Ascham Lady Jane allein im Haus vor während der
Rest ihrer Familie auf der Jagd war. Zu seinem Erstaunen las Lady Jane Platons Phaidon auf
Griechisch. Auf seine Frage, warum sie nicht ebenfalls mit auf die Jagd gegangen sei,
antwortete Jane:
„Ich weiß, dass all ihr Treiben im Park nur ein Schatten der Freude ist, die ich in Platon finde.
Leider haben sie nie begriffen, was wahre Freude bedeutet."
„Und wie kamt ihr, Madam, zu dieser Erkenntnis der Freude und was hat Euch dazu
bewogen, wo doch kaum Frauen und nur sehr wenige Männer diese erlangt haben?"
„Das werde ich Euch sagen," entgegnete Lady Jane, „und eine Tatsache bekennen, die Euch
vielleicht wundern wird. Eine der größten Wohltaten, die ich Gott verdanke, erblicke ich
darin, dass er mir so unerbittlich strenge Eltern und daneben einen so milden, gütigen Lehrer
geschenkt hat. Weile ich bei meinen Eltern, so muß ich mich im Reden, Stehen, Stillesitzen,
Gehen, Essen, Trinken, Nähen, Spielen, Tanzen oder irgend etwas anderem, was ich gerade
treibe, so vollkommen benehmen, wie Gott die Schöpfung vollkommen erschaffen hat. Kann
ich das nicht, was oft der Fall ist, so werde ich dermaßen getadelt oder verspottet, so furchtbar
mit Drohungen überschüttet, ja mit Stößen, Schlägen, Zwicken und Fußtritten behandelt, dass
ich meine, die Hölle auf Erden zu erleben. Dann aber wird es stets wieder licht um mich her,
wenn ich in den Unterricht meines Lehrers Aylmer gerufen werde. Denn er behandelt mich so
freundlich und gütig, unterrichtet so ermutigend und unterhaltsam, dass ich alles Böse
vergesse wie einen bösen Traum. Die Zeit des Unterrichtes vergeht in Windeseile; denn ich
denke an nichts anderes als ans Lernen und bin nur in meine Bücher vertieft. Die schwersten
Stunden des Unterrichts sind mir liebliche Erholung, und beim Verlassen der Stunden
überkommt mich immer eine derartige Traurigkeit, dass ich am liebsten weinen möchte. Denn
alles, was ich sonst tue, als lernen, ist für mich ständig begleitet von Mühseligkeit und Plage,
von Furcht und Leidwesen. So ist es gekommen, dass ich in den Büchern meine schönste
Erholung und Ruhe, ja mein ganzes Genügen und höchstes Vergnügen gefunden habe. Alles
andere erscheint mir daneben als bare Zeitverschwendung und bereitet mir Aberwillen."